Bildungschancen in Deutschland: Ungleichheiten unabhängig von der Herkunft

Die Bildungsungleichheit in Deutschland ist ein vielschichtiges Problem, das nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund betrifft. Auch unabhängig von der ethnischen Herkunft zeigen sich deutliche Unterschiede in den Bildungschancen, die eng mit dem sozialen Status, dem Einkommen der Eltern, dem Bildungsniveau der Eltern und regionalen Disparitäten verknüpft sind. Im Folgenden werden Daten und Fakten präsentiert, die diese Ungleichheiten beleuchten.


1. Einfluss des sozioökonomischen Status

Schulische Leistungen und Abschlüsse

  • PISA-Studien: Die PISA-Studie 2018 zeigt, dass in Deutschland der Leistungsunterschied zwischen Schülerinnen und Schülern aus sozioökonomisch starken und schwachen Familien 113 Punkte in der Lesekompetenz beträgt. Dies entspricht etwa drei Schuljahren.
  • Lesekompetenz: Schülerinnen und Schüler aus den obersten 25% der sozioökonomischen Statusgruppe erreichen in der Lesekompetenz im Durchschnitt 547 Punkte, während diejenigen aus den untersten 25% nur 434 Punkte erreichen.

Übergangsempfehlungen und Schulwahl

  • Übergang auf weiterführende Schulen: Kinder aus akademischen Haushalten erhalten deutlich häufiger eine Empfehlung für das Gymnasium. Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung erhalten 77% der Kinder aus Akademikerfamilien eine Gymnasialempfehlung, verglichen mit nur 38% der Kinder aus Nicht-Akademikerfamilien.
  • Soziale Herkunft: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind aus einer einkommensschwachen Familie ein Gymnasium besucht, ist deutlich geringer als bei Kindern aus einkommensstarken Familien.

2. Bildungsbeteiligung und Abschlüsse

Hochschulzugang und -abschlüsse

  • Studienanfängerquote: Laut dem Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) beginnen 79% der Kinder von Akademikern ein Studium, verglichen mit nur 27% der Kinder von Nicht-Akademikern.
  • Akademikerquote: Nur 21% der jungen Erwachsenen aus nicht-akademischen Familien erlangen einen Hochschulabschluss, während es bei Kindern aus akademischen Familien 63% sind.

Berufsausbildung

  • Übergang in Ausbildung: Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien finden seltener einen Ausbildungsplatz und sind häufiger auf Maßnahmen des Übergangssystems angewiesen.

3. Einfluss des elterlichen Bildungsniveaus

  • Frühkindliche Bildung: Kinder, deren Eltern keinen hohen Bildungsabschluss haben, besuchen seltener frühkindliche Bildungseinrichtungen mit hoher Qualität.
  • Unterstützung im häuslichen Umfeld: Eltern mit höherem Bildungsabschluss können ihre Kinder besser bei schulischen Aufgaben unterstützen und fördern.

4. Regionale Disparitäten

  • Unterschiede zwischen Bundesländern: Die Bildungsqualität und -chancen variieren zwischen den Bundesländern. Beispielsweise zeigen PISA-Ergebnisse Unterschiede von bis zu 50 Punkten zwischen den besten und schlechtesten Bundesländern.
  • Städtische vs. ländliche Gebiete: Schülerinnen und Schüler in ländlichen Regionen haben teilweise schlechteren Zugang zu Bildungsressourcen und Angeboten als in urbanen Zentren.

5. Sozioökonomische Segregation

  • Schulsegregation: In sozialen Brennpunkten konzentrieren sich häufig Schulen mit hohem Anteil an Schülerinnen und Schülern aus sozial schwachen Familien. Diese Schulen haben oft weniger Ressourcen und geringere Leistungsniveaus.
  • Übertrittsempfehlungen: Lehrkräfte tendieren dazu, bei gleicher Leistung Kindern aus höheren sozialen Schichten eher eine Gymnasialempfehlung zu geben.

6. Einkommensungleichheit und Bildung

  • Armutsgefährdung: Laut dem Statistischen Bundesamt waren im Jahr 2020 rund 15,9% der Bevölkerung in Deutschland von Armut bedroht. Kinder aus diesen Haushalten haben oft eingeschränkte Bildungschancen.
  • Kosten für Bildung: Zusätzliche Bildungsangebote wie Nachhilfe, Musikunterricht oder Sportvereine sind für einkommensschwache Familien oft nicht finanzierbar.

7. Auswirkungen auf die Gesellschaft

  • Soziale Mobilität: Deutschland weist im internationalen Vergleich eine geringe soziale Mobilität auf. Der Bildungsaufstieg über Generationen hinweg ist weniger wahrscheinlich als in anderen Ländern.
  • Fachkräftemangel: Ungenutztes Potenzial durch Bildungsungleichheit verschärft den Fachkräftemangel in bestimmten Branchen.

8. Ursachen der Ungleichheiten

  1. Frühe Selektion im Bildungssystem:
    • Das mehrgliedrige Schulsystem führt bereits nach der Grundschule zu einer Trennung der Bildungswege.
    • Frühe Entscheidungen beeinflussen langfristig die Bildungs- und Berufsbiografien.
  2. Mangelnde Ressourcen an Schulen:
    • Schulen in sozial schwachen Gebieten sind oft schlechter ausgestattet.
    • Es fehlt an qualifiziertem Personal und Förderangeboten.
  3. Soziale Vererbung:
    • Bildungsabschlüsse und Berufe der Eltern beeinflussen die Erwartungen und Möglichkeiten der Kinder.
    • Netzwerke und soziale Kontakte spielen eine Rolle bei Praktika und Berufseinstiegen.

9. Maßnahmen zur Verbesserung der Chancengleichheit

  1. Ausbau der frühkindlichen Bildung:
    • Kostenfreie und qualitativ hochwertige Kita-Plätze.
    • Frühzeitige Förderung sozial benachteiligter Kinder.
  2. Ganztagsschulen:
    • Bieten mehr Lernzeit und zusätzliche Fördermöglichkeiten.
    • Entlasten Eltern und unterstützen Schülerinnen und Schüler individuell.
  3. Abschaffung von Kita-Gebühren:
    • Ermöglicht allen Familien den Zugang zu frühkindlicher Bildung.
  4. Förderung von Schulen in Brennpunkten:
    • Zusätzliche Mittel für Personal, Ausstattung und Sozialarbeit.
  5. Durchlässigkeit des Bildungssystems erhöhen:
    • Flexiblere Übergänge zwischen Schulformen.
    • Zweite Bildungswege stärken.
  6. Stipendien und finanzielle Unterstützung:
    • Ausbau von BAföG und Stipendien für sozial benachteiligte Studierende.

10. Fazit

Die Daten zeigen deutlich, dass Bildungsungleichheiten in Deutschland tief verwurzelt sind und nicht allein auf den Migrationshintergrund zurückzuführen sind. Soziale Herkunft, Einkommen der Eltern und das Bildungsniveau der Eltern spielen eine entscheidende Rolle für die Bildungsbiografie von Kindern und Jugendlichen. Um Chancengleichheit zu erreichen, sind umfassende Reformen und gezielte Maßnahmen notwendig, die darauf abzielen, soziale Barrieren abzubauen und allen Kindern unabhängig von ihrer Herkunft gleiche Bildungs- und Teilhabechancen zu ermöglichen.


Quellen

  • Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD): PISA-Studien 2018
  • Statistisches Bundesamt (Destatis): Bildungs- und Armutsstatistiken 2020
  • Bertelsmann Stiftung: Studie „Chancenspiegel“ 2020
  • Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW): Bildungsbericht 2020
  • Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB): Soziale Mobilität und Bildungschancen
  • Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF): Bildungsforschungsprogramme

Published by

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.